Fortsetzung von Wer war mein Großvater?
Von seiner Teilnahme am Ersten Weltkrieg hat mir mein Großvater nie erzählt - ich muss aber auch zugeben, dass ich im Alter von 9-12 Jahren nicht danach gefragt habe. Zudem war aufgrund des amputierten Beins und der Verletzung im Gesicht davon auszugehen, dass der Krieg für ihn sicherlich kein angenehmes Thema war. Mit Schach, Offiziersskat, Latein, dem Planen von Ausflügen mit damals noch gedruckten Eisenbahn-Kursbüchern und Fahrplänen der Kölner Verkehrsbetriebe, den Namen der Rheinbrücken und großer Bauwerke sowie dem Siebengebirge und dem Rhein an sich hatten wir genügend Themen für meine regelmäßigen Sonntagsbesuche in Weiden bei Köln.
In einem alten Schuhkarton fand ich die Orden meines Großvaters, unter anderem die Eisernen Kreuze Erster und Zweiter Klasse (Abb. 2).
Abb. 2: Eiserne Kreuze meines Großvaters: links E.K. II (7. August 1916), rechts E.K. I (23. September 1917), Gravur: 28. Juli 1916
Was mein Großvater im Krieg erlebt hat und wo er gewesen ist, ist teilweise seinen unten abgebildeten Aufzeichnungen (Abb. 4-8) zu entnehmen, die er in deutscher Kurrent-Schrift geschrieben hat. Deutsche Kurrent ist eine zügig geschriebene Schreibschrift (currere = laufen, rennen) des 19. Jahrhunderts. Sie ist noch etwas schwieriger zu lesen als die 1911 entwickelte Sütterlin-Schrift, welche ich 1969 in der Grundschule gelernt habe, weil meine Lehrerin Edith Weber "mit dem Stoff durch war" und bis zum Ende der Grundschule noch etwas getan werden musste.
Die Abbildungen 4-8 zeigen den Kriegsranglisten-Auszug meines Großvaters. Sollten mir bei der Abschrift Fehler unterlaufen sein, so bitte ich um freundliche Hinweise und Verbesserung. Unklarheiten habe ich mit Fragezeichen gekennzeichnet. Abkürzungen habe ich, soweit dem Verständnis dienend, nach bestem Wissen ausgeschrieben. Die Fotos können mit einem Rechtsklick heruntergeladen und vergrößert angesehen werden.
Abschrift von Abb. 5 (Seite 1):
Kriegsranglisten-Auszug des Leutnants Ludwig Ruppersberg
vom Infantrie-Regiment Nr. 78, 2. M. G. K. (2. Maschinengewehrkompanie) während der Mobilmachung ...
Formular-Nr. M. 49a. Waisenhaus-Buchdruckerei Cassel.
Abschrift von Abb. 6 (Seite 2), oberer Teil:
Dienstgrad: Leutn. aktiv. (Leutnant, aktiver)
Vor- und Familienname: Ludwig Ruppersberg (Anmerkung: hier steht nur der Rufname; die anderen drei Vornamen werden nicht aufgeführt)
Religion: ev.
Ort der Geburt, Verwaltungsbezirk, Bundesstaat: Marburg, dto, Preussen; Datum der Geburt: 30.12.1893
Lebensstellung (Stand, Gewerbe, aktiver Offizier): aktiver Offizier; Wohnort: Marburg
Vor- und Familiennamen der Ehegattin, Zahl der Kinder. Vermerk, dass der Betreffende ledig ist: ledig
Vor- und Familiennamen, Stand oder Gewerbe und Wohnort der Eltern: Eduard + Apothekenbesitzer, Elisabeth geb. Hintze, Marburg, Sybelstr. 3
Truppenteil: I.R.78, 2. M.G.K. (= Infantrieregiment 78, 2. Maschinengewehrkompanie)
Abschrift von Abb. 6 (Seite 2), unterer Teil:
Zusätze zu den Personalnotizen:
am 8.8.15 verletzt (Perforation des linken Trommelfells. Übertäubung (?) des rechten Trommelfelles, Mittelohreiterung (?) des linken Ohres. (Anmerkung: Nähe Bug, siehe Abb. 7)
9.8.15 im Feldlazarett 4. II A.-K., 10.8.15 Kriegslazarett Lamosge (?), 11.-13.8.15 Kriegslazarett Jaroslau (heute Jaroslav)
15.-29.8.15 Res. Laz. Kreuzburg o.S. (ob Stober, heute: Kluczbork), vom 29.8.15 - 31.8.15 im ?....?lazarett Gleiwitz (heute: Gliwice).
(Anmerkung: zwischenzeitlich wurde er auf der Nordseeinsel Borkum am Maschinengewehr ausgebildet und in Frankreich an der Aisne eingesetzt)
am 28. 7. 1916 Szczuryn schwerverwundet. (I.G. Bein (?)/ Amputation des rechten Oberschenkels),
vom 28.7.1916 - 11.5.17 in russischer Gefangenschaft, am 14.5.17 aus russischer Gefangenschaft zurück-
und zum Reserve-Lazarett II Altona Abt. Technikum überwiesen, vom 18.5.17 - 25.8.17 im Reserve-Lazarett II
Abteilung Marienkrankenhaus, vom 25.8.17 - 14.2.18 in Privatpflege in Marburg.
Verwendungsfähigkeit: L. a. v. Heimat, auf Wunsch vielleicht auch in die- ser Weise an der Flagge verwendbar. (?)
Abschrift von Abb. 7 (Seite 3):
Datum des Diensteintritts: 10.11.1914, Datum des Patents*: 2(Lochung).4.1916 * gemeint ist das Offiziers-Patent, gleichbedeutend mit Beförderung zum Leutnant.
Mitgemachte Gefechte, Bemerkenswerte Leitungen: Umstehend
Orden und Ehrenzeichen: a) preußische, b) andere: E. K. II (28.7.1916), E. K. I (23.9.1917), schwerst. Verwundetenabzeichen (14.5.1918)
Dienstverhältnisse: a) frühere, b) nach Eintritt der Mobilmachung
b: am 10.11.1914 beim 2/78 eingetreten
am 15.3.1915 zum Fahnenjunkerkursus nach Döberitz kommandiert, am 15.5. zum 1/78 zu-
rück, am 1.6.15 zum Ausbildungskursus nach Munsterlager kommandiert, am 29.7.15 beim
Feldregiment eingetroffen, am 1.9.1915 dem I l/78 überwiesen, vom Oktober -
Dezember 1915 zur Festungs-Maschinengewehr-
Abteilung X in Borkum kommandiert.
im Dezember 1915 dem I/ l 78 überwiesen.
am 8.3.16 zum Feldregiment - gestrichener Text- (Ergänzung: am 28.7.16 erfolgte die Verletzung mit Beinamputation, nachfolgend Kriegsgefangenschaft bis 14.5.17!)
vom Juni - Juli 1917 als Aufklärungsoffizier
des G. K. II (unleserlich?) beim Reserve-Lazarett II Abt.
Marinekrankenhaus in Hamburg, am 25.8.17 beim I l/78, (gestrichener Text),
am 25.2.1918 zum Bezirks-Kommando Osnabrück kommandiert zur Einarbeitung als Adjutant.
Vom 1.5. - 5.10.18 zum Bezirks-Kommando Marburg kommandiert.
(unleserlich... des ....) Kdo. X A. V. v. 5.10.18 - IIa 84769.
Abschrift von Abb. 8 (Seite 4):
Dienstverhältnisse:
Bis zum Eingang der Entscheidung auf sein Abschiedsgesuch mit Gebührnissen beurlaubt
durch A. K. O. vom 18.10.1918 der Abschied bewilligt.
Am 26.10.18 aus dem Heeresdienst entlassen und dem Bezirkskommando Marburg überwiesen.
(Bemerkung des Verfassers: Der Erste Weltkrieg endete am 11.11.1918.)
Mitgemachte Gefechte, bemerkenswerte Leistungen:
29.7.-30.7.1915 Durchbruchsschlacht bei Biskupice (Ergänzung des Verfassers: vermutlich Biskupice bei Lublin, es gibt mehrere Orte dieses Namens)
31.7.-8.8.1915 Verfolgungskämpfe vom Wieprz bis zum Bug
8.3.-15.5.1916 Stellungskämpfe an der Aisne
13.6.-3.7.1916 Kämpfe am Stochod (ukrainisch Stochid, sto-chid = 100 Wege, der Fluss bildet ein Netz aus parallelen Armen)
4.7.-15.17.1916 Kämpfe am Styr u. Stochad (sic!, gemeint ist der Fluss Stochid (ukrainisch) oder Stochod (russisch); unbetontes o wird wie a gesprochen)
16.7.-27.7.1916 Kämpfe am oberen Stochod (Ergänzung des Verfassers: andere Schreibschrift als eine Zeile darüber verwendet)
28.7.1916 Schlacht bei Kowel (Ergänzung des Verfassers: https://de.wikipedia.org/wiki/Brussilow-Offensive )
Abschrift von Abb. 9:
Dienstleistungsverhältnisse:
Vom 25.2. - 1.5.18 zwecks Einarbeitung als Adjutant zum Bezirks-Kommando Osnabrück kommandiert
" 2.5. - 5.10. 18 zum Bezirks-Kommando Marburg kommandiert.
Gemäß Verfügung des stellvertretenden Regimentskommandeurs X. Infantrie-Regiments vom 5.10.18 - II a 8 H 769 bis zum Eingang der
Entscheidung auf sein Abschiedsgesuch mit Gebührnissen beurlaubt.
Durch A. K. O. vom 18.10.18 der Abschied bewilligt.
Am 26.10.18 aus dem Heeresdienst entlassen und dem Bezirks-Kommando Marburg überwiesen.
Dienstsiegel: Königlich Preussisches Infantrie-Regiment, Herzog Friedrich Wilhelm von Braunschweig (Ostfriesisches) No. 78
Für die Richtigkeit des Schriftsatzes:
(unleserlich)
Leutnant und Adjutant
Osnabrück, den 18. II. 1919
Für die Richtigkeit der Abschrift: Versorgungsstelle Marburg, den 15.12.1919, im Auftrag: B/Wahrenburg (?), Oberleutnant und Adjutant
Dienstsiegel: Königlich Preussisches Bezirks-Commando zu Marburg
Anmerkungen des Verfassers:
- Zu der Auflistung aus Abb. 9 gibt es noch eine mit ordentlicherer Handschrift verfasste Seite (Abb. 10) die mit dem Dienstsiegel des Königl. Preuss. Inft.-Regt. abgestempelt ist und von meinem Großvater beim Versorgungsamt vorgelegt werden musste, damit seine Kriegsversehrten-Rente berechnet werden konnte. Da diese recht niedrig war, mein Großvater bei Kriegsende erst 24 Jahre alt war und zudem Stolz hatte, hat er sich wie viele andere schwerst Traumatisierte eine sinnvolle Beschäftigung gesucht. Mein Großvater hat in Marburg (... Jura) und Gießen (12.10.1918: Landwirtschaft) ein Studium begonnen, das war aber offensichtlich nicht das richtige für ihn.
- Vermutlich durch Vermittlung seiner Schwester Maria, die in Essen mit Medizinalrat Fischer verheiratet war, zog er nach Essen um und bekam bei der Disconto-Gesellschaft ab 7. Februar 1920 ein Ausbildungsgehalt von 100 Reichsmark; das waren nach Umrechnung der Deutschen Bundesbank etwa 60 Euro (Quelle: https://www.bundesbank.de/resource/blob/615162/94b87ff6d25eceb84c9cfb801162b334/mL/kaufkraftaequivalente-historischer-betraege-in-deutschen-waehrungen-data.pdf , Stand: 2024).
- Erstaunlich sind die Strecken, die mein Großvater von 1914-1916 zurückgelegt hat: Marburg- Infantrieregiment 78 Emden / Aurich (?, nicht erwähnt, geht aber aus der Regimentsgeschichte hervor) - Döberitz - Munsterlager - Biskupin (Polen?) - Bug (Ukraine) - Borkum (Maschinengewehrausbildung) - Aisne (Frankreich) - Stochod (Ukraine) - Amputation - Gefangenschaft (Ufa?) - Hamburg (Prothese) - Osnabrück - Marburg. In Freiburg/Breisgau existieren zwei Personalakten meines Großvaters, die ich auszuleihen beabsichtige (Archiv mit Möglichkeit der Präsenz-Einsicht, Invenio).
- Ein Rätsel ist mir derzeit, warum der Ort der Kriegsgefangenschaft (Ufa) nicht erwähnt wurde.
- Bei neuerlichen Recherchen mit den Suchworten "Ruppersberg Kowel" habe ich etwas interessantes gefunden. In folgendem Buch und insbesondere auf S. 169 mit Erwähnung eines "Hauptmann Ruppersberg" ist die Schlacht bei Kowel geschildert: Lüken, Dietrich und Hinrich Dirksen (2006): Käme doch bald der Friede, damit man wieder weiß, was leben heißt!: Weltkriegstagebücher und Feldpost des Lehrers Dietrich Lüken aus Remels ; Kriegsfreiwilliger im Infanterie-Regiment Herzog Friedrich Wilhelm von Braunschweig (Ostfriesisches) Nr. 78 ; 1914 - 1916. Mein Großvater war allerdings nicht Hauptmann, sondern "nur" Leutnant. Entweder handelt es sich um eine andere Person mit Namensgleichheit oder der Dienstgrad wurde falsch berichtet; vielleicht, weil er eine Kompanie geführt hat, was "normalerweise" Aufgabe eines Hauptmanns ist.
Hier ein Zitat aus Lüken D. und Dirksen H. (2006), S. 169:
"28.7.1916 ... Inzwischen versuchte der Gegner in erneutem Anlauf das Dorf Szczuryn den 78ern zu entreißen. Dies aber verteidigte das II. Batl. im hin- und herwogenden Kampfe mit zäher Ausdauer. Hierbei fiel einmal der verwundete Regimentskommandeur in Feindeshand, wurde aber durch sofortigen Gegenstoß von Teilen der 7. Komp. wieder herausgehauen. Die ungünstige Lage des südlich des Dorfes stehendenden I. Batls. und von Teilen des II. Batls. hatte schon vorher zu dem Befehl geführt, im vorderen Grabensystem nach Norden auszuweichen und sich in der zweiten Stellung zu erneutem Angriff zu sammeln. Hier fand sich der größte Teil des I. Batls.und der 5. Komp. zusammen. Hauptm. Ruppersberg setzte mit diesen Teilen sofort einen Gegenstoß an, um den in Szczuryn noch haltenden Teilen Entlastung zu bringen. Der Angriff glückte; bis zum Abend war das ganze Dorf Szczuryn und das Gelände desselben wieder im Besitz des Regiments. In der Nacht kam dann der Befehl zum Zurückgehen hinter den Stochod; durch geschickte Täuschung durch Patrouillenkommandos wurde der Rückmarsch ohne Belästigung durch den Gegner ausgeführt. Es gelang sogar, sämtliche erreichbaren Verwundeten und die im Dorfe Szczuryn fast unmittelbar hinter der vorderen Schützenlinie stehende Gefechtsbagage zurückzuführen. Um 4.30 vorm. überschritten die letztenTeile des Regiments die Stochodbrücke bei Witoniz. Das Regiment übernahm auf dem westlichen Flußufer eine in einzelnen Stützpunkten ausgehobene Stellung. Bereits kurz vor 8.00 vorm. erschienen die ersten Russen vor dieser neuen Stellung.“
Mein Großvater gibt in seinen Aufzeichnungen das Dorf Szczuryn als Ort seiner Verwundung an. Anders als im obigen Bericht gehörte er nicht zu den Verletzten, die zurückgeführt werden konnten, sondern er gelangte direkt in russische Kriegsgefangenschaft. Nach Erzählungen meiner Großmutter war er in Ufa. Gerne wüsste ich mehr darüber.
Wie er aus der Kriegsgefangenschaft zurück kam, ist derzeit noch unklar. Ich versuche aber, etwas darüber herauszufinden. Literatur hierüber gibt es reichlich, wenn man nach Elsa Brändström sucht.
Weiterhin habe ich eine Doktorarbeit mit fast 600 Seiten zu diesem Thema gefunden: https://bibliographie.uni-tuebingen.de/xmlui/bitstream/handle/10900/46156/pdf/diss_wurzer.pdf?sequence=1
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